Wege der Verständigung – Hebräisch als Unterrichtsfach
Erfahrungen aus dem Schulalltag
Es war Johannes Rau, der vor mehreren Jahrzehnten Hebräisch als reguläres Unterrichtsfach in der Oberstufe anregte. Rau (1931-2006), damals Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und späterer Bundespräsident, engagierte sich wie nur wenige andere für Verständigung und Versöhnung zwischen Christen und Juden, zwischen Deutschland und Israel. Er war der erste Politiker, der in der Knesset, dem Israelischen Parlament, eine Rede in deutscher Sprache halten durfte, die in Israel auf große Anerkennung traf. Unvergessen seine Worte im Jahr 2000: „Im Angesicht des Volkes Israel verneige ich mich in Demut vor den Ermordeten, die keine Gräber haben, an denen ich sie um Vergebung bitten könnte. Ich bitte um Vergebung für das, was Deutsche getan haben, für mich und meine Generation, um unserer Kinder und Kindeskinder willen, deren Zukunft ich an der Seite Israels sehen möchte.“ Es war Rau ein Herzensanliegen, nach der Katastrophe der Schoah Begegnung neu zu ermöglichen und Wissen über das Judentum zu vermitteln.
Einer der Wege des Kennenlernens, der Königsweg geradezu, führt über die hebräische Sprache. Hier geht es einerseits um das heute in Israel gesprochene Hebräisch, andererseits um das bedeutendste Buch des jüdischen Volkes, die Hebräische Bibel, die schon früh zum ersten Teil auch der christlichen Bibel wurde. Die Hebräische Bibel, eine ganze Bibliothek unterschiedlichster Bücher, ist in sogenanntem Althebräisch verfasst, was aber dem heute in Israel gesprochenen Iwrit sehr nahe ist, denn dieses wurde Ende des 19. Jahrhunderts aus jenen frühen, nur schriftlich existenten Sprachformen zu einer lebendigen, d. h. gesprochenen Sprache, „erweckt“. Ein außergewöhnliches Experiment!
Seit den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts besteht nun in Schulen NRWs das Angebot, in der gymnasialen Oberstufe Hebräisch als Grundkurs zu wählen. Seither gibt es Jahr für Jahr Interessierte in der Schülerschaft, die dieses Angebot wahrnehmen. So unterrichte ich seit 25 Jahren Hebräisch als Coop-Kurs am Gymnasium Adolfinum (gegründet 1582) in Moers am Niederrhein – eine Aufgabe, die mir am Herzen liegt. Was Schülerinnen und Schüler zur Wahl des Hebräischen motiviert, sind zumeist sprachliche, theologische oder auch judaistische Interessen. Immer wieder aber habe ich auch feststellen können, dass nicht wenige dieser jungen Menschen durch ältere Geschwister oder Freunde neugierig auf das Fach wurden, so dass ich manchmal im Rahmen des Unterrichts ganze Familien kennenlernen durfte.
Dankbar bin ich dem Adolfinum, dass es meine Arbeit stets unterstützt hat und unterstützt, wenn sich auch die Kursgröße aufgrund der Erweiterung des Sprachangebots in der Oberstufe im letzten Jahrzehnt verringert hat. Die Schule ist sich jedoch sowohl ihrer Tradition als auch ihrer Verantwortung im Hinblick auf die deutsche Geschichte bewusst. Dies zeigt sich nicht nur an der Beteiligung von Schülern an Stolpersteinverlegungen, sondern lässt sich vor allem an den jährlichen Fahrten der Jahrgangsstufe 10 nach Auschwitz und Krakau ablesen. Immer wieder ist es eine eindrückliche Erfahrung, wenn eine Auswahl derjenigen, die an der Reise teilgenommen haben, im Gedenken zum 9. November am Mahnmal für die ermordeten Moerser Bürgerinnen und Bürger von ihren Eindrücken im Verlauf jenes anspruchsvollen Projekts berichten. Politische und gesellschaftliche Entwicklungen in unserem Land zeigen, dass diese und ähnliche Aktivitäten heute nötiger denn je sind.
Angesichts des bedrohlichen Antisemitismus in Deutschland und der Feindschaft zwischen Kulturen und Religionen, erfüllt es mich mit Erstaunen und Dankbarkeit, dass junge Menschen, Christen, Juden, Muslime und auch solche, die keiner Religion angehören, sich im Schulunterricht versammeln, um gemeinsam die Sprache der Bibel zu erlernen. Handelte es sich allein um Christen und Juden, so wäre das nicht unbedingt verwunderlich. Aber dass sich nun seit vielen Jahren mehr und mehr auch muslimische Schülerinnen und Schüler von sich aus für die Teilnahme am Hebräischunterricht entscheiden und ihn durch ihr Engagement bereichern, empfinde ich fast als ein kleines Wunder und als große Chance zur Verständigung. So erinnere ich mich in diesen beunruhigenden Wochen an einen palästinensischen Schüler, der regelmäßig in den Ferien mit den Eltern nach Israel und die Westbank reiste und uns im Unterricht von seinen Erfahrungen dort, den guten und den weniger guten, ohne Polemik berichtete. Oder ich denke an eine Schülerin vom Nachbargymnasium, die kürzlich ihre hebräische Abiturprüfung mit der Punkthöchstzahl abgelegt hat. Das war nicht nur sprachlich eine beeindruckende Leistung, sondern es war zu spüren, wie intensiv sie sich als Muslima auch inhaltlich mit den von uns behandelten Texten der Hebräischen Bibel auseinandergesetzt hatte.
Die Hebräischgruppe, die nun im kommenden Jahr ihre Schullaufbahn beenden wird, ist ein besonders schönes Beispiel dafür, wie praktische Verständigungsarbeit zwischen Religionen und Kulturen im Unterricht aussehen kann, auch wenn die einzige jüdische Schülerin des Kurses unsere Lerngruppe leider verlassen hat. Ihr Engagement bei den Grünen und bei „Fridays for Future“ hat ihr es zeitlich nicht mehr erlaubt, einen ganzen langen Nachmittag für das Erlernen einer neuen Fremdsprache zu opfern. Auch wenn es zu einer Beteiligung jüdischer Schülerinnen und Schüler am Hebräischunterricht immer wieder kommt, so ist dies doch ein eher seltener Glücksfall, da nur wenige Juden in Moers leben.
In der Regel steht am Ende einer jeden dreijährigen Unterrichtszeit ein festlicher Abschluss, so z. B. der Besuch eines Gottesdienstes zum Schabbat am Freitagabend in der Düsseldorfer Synagoge samt einer anschließenden gemeinsamen Mahlzeit im naheliegenden koscheren Restaurant.
Inzwischen gibt es auch Kontakte zu einer Schule in Israel und aus der Schülergruppe selbst wurde der Wunsch laut, Beziehungen zum jüdischen Albert-Einstein-Gymnasium in Düsseldorf aufzunehmen. Das alles zeigt das spürbare Interesse der jungen Menschen, mehr über Judentum und jüdisches Leben, das seit 1700 Jahren zu Deutschland gehört, erfahren zu können.
Die Schülerinnen und Schüler dieses lebendigen und interessierten Kurses mit familiären Wurzeln aus der Türkei, dem Libanon, Ghana und Deutschland – vier von ihnen Muslime, die anderen zum größten Teil aus christlich abendländischer Tradition – tauschen sich aus über Fragen, die sich ihnen beim Lesen der Hebräischen Bibel stellen. Der Unterricht, der nach drei Jahren in der Regel mit dem Erwerb des Hebraicums endet, setzt mit dem Neuhebräischen ein, um sich von da aus allmählich ausgewählten Texten der Bibel zuzuwenden. Dabei geht es um „Geschichte Israels“ und „biblische Geschichte“, wobei hier die muslimischen Schüler auch hinsichtlich des Vergleichs mit dem Koran gefragt sind. Beliebt ist außerdem die Unterrichtsreihe über jüdische Feste und Feiern und deren Parallelen zu den entsprechenden christlichen Festen. Weitere Themen sind die Tora sowie Königtum und Prophetie in Israel.
Derzeit beschäftigen wir uns mit biblischer Anthropologie, d.h. dem Menschenbild der Hebräischen Bibel, wie es vor allem den ersten elf Kapiteln der Genesis, der Urgeschichte, zu entnehmen ist. Wenn wir in dem Zusammenhang auf Inhalte wie Menschenwürde, Bewahrung der Schöpfung, den Ruhetag, Gleichstellung von Mann und Frau, Gottebenbildlichkeit, das Lebensrecht des anderen, Schuld und Umkehr, Versöhnung und Barmherzigkeit u.v.m. zu sprechen kommen, dann ahnen die Schülerinnen und Schüler – ganz gleich ob Moslem, Christ oder Jude – dass dies auch ihre und unser aller Geschichten sind, die einen jeden von uns angehen und uns in die Verantwortung für die Welt rufen. Die Jugendlichen lernen, dass es nicht um Einteilung in „Gläubige“ und „Ungläubige“, sondern um die Achtung vor dem Mitmenschen geht. Und noch etwas lehren uns die Geschichten vom Anfang der Bibel: dass Vielfalt keine Bedrohung ist – eine Sicht, die heute leider nicht alle politischen Parteien teilen. Vielfalt bedeutet zuerst einmal Reichtum und Segen, wie einer der Schüler anhand der Geschichte vom Turmbau zu Babel (Genesis 11), über die er kürzlich seine Facharbeit schrieb, entgegen der landläufigen Auslegung so treffend herausgestellt hat und wie wir es in unserer kleinen Hebräisch lernenden Gemeinschaft Woche für Woche erleben dürfen.
Von einer Öffnung hin zu „den Völkern“ lesen wir auch in einigen Psalmen Israels, mit denen wir unsere dreijährige Unterrichtszeit beschließen, Psalmen aus Bibel und Siddur, dem jüdischen Gebetbuch. Und wir erleben Öffnung in dem vor einigen Tagen begangenen jüdischen Wochenfest Schawuot, das an den Bundesschluss am Sinai samt der Gabe der Tora erinnert, die immer auch den universalen Aspekt in sich trägt. So geht es an Schawuot auch um die Zuwendung zu den Fremden und Hinzugekommenen, wovon das biblische Buch Ruth, eine der Lesungen des Festes, so eindrücklich zu erzählen weiß.
Bleiben Hoffnung und Zuversicht, dass die Schülerinnen und Schüler, wenn wir sie am Ende ihrer Schulzeit in „die Welt“ entlassen, sich – gleich, welcher Religion sie zugehören – der alten Geschichten der Bibel und deren Ja zum „Leben“ und zur „Vielfalt des Lebens“ erinnern, um auf diese Weise versöhnend und integrierend in ihrem eigenen Lebensumfeld tätig zu werden. Damit würden sie nicht zuletzt einem Herzensanliegen von Johannes Rau entsprechen, der nicht müde wurde, für sein Lebensmotto „Versöhnen statt spalten“ einzutreten.
Schawuot 5781
Pfingsten 2021
Text: Annette Sommer | Fotos: Andrea Klein.
— [Thomas Kozianka]